Pfarrgemeinde St. Ludger Selm

ermutigend – Impuls 28.10.2020

„Schock Deine Eltern, …

… lies ein Buch!“ – So lautete vor einiger Zeit ein Werbeslogan, der junge Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche zum Lesen animieren wollte. Natürlich stammte dieser Spruch von Erwachsenen und ich finde ihn ein wenig unfair, denn nicht nur die berühmte „Jugend von heute“ liest kaum noch, auch viele Erwachsene lesen immer weniger. Auch ich komme nur selten dazu, mal wirklich aus reiner Freude zu lesen. Dabei ist Lesen etwas Wundervolles, besonders dann, wenn es wirklich zweckfrei zur reinen Freude geschieht: Nichts kann uns so sehr in die Welt unserer Phantasie entführen, unser Denken stimulieren, unsere Gefühle ansprechen wie gerade das zweckfreie Lesen. Das einzige, das diesem gleichkommt, ist das zweckfreie Spiel. Leider ist in heutiger Zeit alles verzweckt – auch das Spiel und das Lesen. Da müssen schon die Spiele für die Kleinsten pädagogisch sinnvoll sein, da sind als Bücher möglichst Fachliteratur gefragt oder Zeitungen, Artikel, die uns weiterbringen. Alles muss seinen Nutzen haben, mir etwas bringen.

Dabei waren die Großen der Geschichte, die Erfolgreichen nicht deshalb erfolgreich und groß, weil sie vorwärts strebten, weil sie unermüdlich und fleißig waren, oder weil sie schlicht und ergreifend das Glück hatten, zu rechten Zeit am rechten Ort zu sein – das gehörte auch dazu. Nein, sie waren vor allem deshalb erfolgreich und groß, weil sie Phantasie genug hatten, etwas Neues zu wagen und so ihren Traum in Wirklichkeit umzusetzen.
Einer der für mich in meiner Kindheit und Jugend berühmtesten Männer war ein Mann, der etliches versucht hatte und immer wieder gescheitert war, der schließlich straffällig wurde und im Gefängnis landete. Eine eigentlich gescheiterte Existenz – so würde man sagen. Und doch fing er im Gefängnis an zu schreiben und zog Millionen von Menschen, ja ganze Generationen, in seinen Bann, die in jeder freien Minute, ja selbst nachts unter der Bettdecke seine (allesamt erfundenen) Reiseabenteuer verfolgten als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi mit seinem Freund Winnetou bzw. Hadschi Halef Omar und vielen anderen mehr. Auch seine „historischen“ Romane erlangten Weltruhm. Das große Kapital des Karl May war seine Lektüre der Reisebeschreibungen, die er in der Gefängnisbibliothek gefunden hatte – und die er in seinen Büchern umsetzte, lange bevor er einige der Länder besucht hatte.