Es ist nachvollziehbar, dass die Kirche St. Fabian und St. Sebastian für die Menschen in Selm langsam zu klein wurde:
- 1835 lebten in Selm 1397 Menschen
- 1885 waren es 1693
- 1895 dann schon 1728
Für die selbstbewussten Selmerinnen und Selmer sicher eine Motivation, an den Ersatz ihrer alten Pfarrkirche zu denken, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts von den Werdener Benediktinern als Eigenkirche geführt worden war.
Im August 1902 erließ Bischof Hermann Dingelstedt von Münster im Kirchlichen Amtsblatt der Diözese einen Kollektenaufruf zugunsten des Neubauvorhabens, in dem es hieß:
„In Selm… ist der Bau einer neuen Pfarrkirche zum dringenden Bedürfnisse geworden. Die alte Kirche befindet sich in einem traurigen Zustand, welcher des hehren Zweckes, dem sie dienen soll, durchaus unwürdig erscheint. Dazu kommt der andere sehr beklagenswerthe Uebelstand, daß der vorhandene Raum viel zu klein und zu enge ist, um die wachsende Zahl der Gläubigen … auch nur nothdürftig fassen zu können. Die Pfarrkinder von SeIm sind zu den größten Opfern bereit, um in den Besitz eines ausreichend geräumigen und würdigen Gotteshauses zu gelangen.“
Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein finanzieller Grundstock vorhanden, der durch Kollekten und diözesanweite Sammlungen erweitert wurde. Im Jahr 1904 wurde mit der Planung begonnen, Entwurf und Bauausführung oblagen den Architekten Becker und Paßmann aus Münster. Die Durchführung der Bauarbeiten wurden der in Dülmen ansässigen Firma Kirchner übertragen, wobei für die Marmor- und Natursteinarbeiten italienische Facharbeiter hinzugezogen wurden.
Dem Stil der Zeit folgend, entstand eine dreischiffige Kirche mit vorgelagertem Westturm in Ziegelbauweise, bei dem die Fenstergewände, -leibungen und die Mauerecken in gelbem Sandsteinmauerwerk gearbeitet wurden. Nach kurzer Bauzeit wurde die Kirche am 9. Juli 1908 durch Bischof Hermann Dingelstedt aus Münster geweiht und bekam das Patrozinum des hl. Ludger, da auf diese Weise der historische Zusammenhang zwischen Ludgers Klostergründung Essen-Werden und dem Werdener Oberhof Selm deutlich wurde. Gleichzeitig mit der Weihe der neuen Kirche wurde die Friedenskirche als Pfarrort aufgegeben und die Kirche profaniert.
Das für das Äußere der neuen Selmer Kirche Prägende ist in der Westansicht der hoch aufragende schlanke und schiefergedeckte Turm, der von zwei wesentlich niedrigeren Treppentürmen flankiert wird. Dort, vor der Sakristei und ihr gegenüber befinden sich die Eingänge zur Kirche. Das Kirchenschiff ist vergleichsweise klein, gewinnt aber mehr an Breite durch die niedrigeren, sich einfügenden Seitenschiffe; das Querschiff bestimmt die nur etwas kleinere Raumbreite der sich im westlichsten Joch nach Norden und Süden angefügten seitenkapellenartigen Erweiterungen. An den südöstlichen Querhausarm schließt sich die Sakristei an. Der Kirchenbau wirkt durch den Wechsel zwischen Ziegelmauerwerk und Natursteinen belebt.
Abgesehen von der sorgfältig ausgeführten, schmucken Steinbearbeitung der Kirche ist am Außenbau lediglich das Portaltympanon künstlerisch hervorgehoben. Das Tympanon des Westportals stellt die Überführung des heiligen Ludger dar; im oberen Zwickel der segnende Christus mit der Weltkugel und dem Kreuz, flankiert von zwei Engeln. Darunter, durch ein Maßwerkband getrennt, der Zug der Benediktiner-mönche mit der Bahre des toten Ludger, den Diakone mit Sterbekerzen und Weihrauchfässern begleiten. Ein geharnischter Ritter ist aufs Knie gesunken, stützt sich auf sein Schwert und verharrt ehrfürchtig gebeugt.
Das Innere stellt sich als relativ breiter, dreischiffiger Kirchenraum mit erhöhtem Chorraum und niedrigeren Seitenschiffen dar. Seitenwände und Gewölbe des Mittelschiffs werden von acht Säulen getragen, die ohne Kapitelle in die Gewölbe übergehen.
Ursprünglich waren die Seitenwände des Mittelschiffs ausgemalt mit Darstellungen der sieben Sakramente und den Werken der Barmherzigkeit. Bei der ab 1979 durchgeführten Innenraumrenovierung, die die liturgischen Vorschriften des Zweiten Vatikanischen Konzils umzusetzen hatte, wurden diese Ausmalungen überstrichen. Der Altarraum wurde nach Plänen von Prof. Ludes aus Dorsten umgestaltet. Der nunmehr frei umgehbare, etwas östlich von der Vierung aufgestellte Hauptaltar, der schmaler ist als der neugotische Altar, der Ambo sowie die Sedilien für Priester und Konzelebranten sind aus hellem Sandstein gearbeitet. So unterstreicht das Material bereits, dass Wortgottesdienst und eucharistisches Opfer im Gottesdienst zusammengehören.
Die mittleren drei Fenster im Chorraum sind figürlich gestaltet, die Nord- und Südfenster lediglich mit schmalen, ornamentalen Zierleisten ausgestattet. Darge-stellt sind folgende Szenen: im linken Fenster die Geburt Christi – Weihnachten, im mittleren Fenster wird die Auferstehung Christi – Ostern thematisiert und das rechte Chorfenster schließlich hat die Sendung des Heiligen Geistes – Pfingsten – zum Inhalt. Den oberen Abschluss der Fensterdarstellungen bilden sieben Engel, die Weisheit, Verstand, guten Rat, Stärke, Wissenschaft, Gottseligkeit und Furcht Gottes symbolisieren. – Sowohl im Geburts- als auch im Pfingstbild wird die Werkstatt genannt: Bernhard Kraus, Glasmalerei Mainz. Die Fenster sind zwar undatiert, müssen aber bei der Einweihung der Kirche, also 1908, fertig gewesen sein.
Im Scheitel des Chorraums befindet sich der ehemalige Hauptaltar der Kirche, ein eichener Schnitzaltar, der die Formen niederrheinischer bzw. Antwerpener Altäre des 15. Jahrhunderts wieder aufnimmt. Er ist eine Stiftung des ersten Pfarrers dieser Kirche, Hermann Josef Burgholz (1853-1911), und seiner Geschwister. Die Stipes ist mit Büsten des Gotteslammes und der Propheten Ezechiel, Jeremia, Jesaja und Daniel geschmückt. Auf der Altarplatte steht der Tabernakel, der von vier kleineren Nischen flankiert wird (hl. Ludger, zwei Propheten und der heilige Bonifatius). Über dem Tabernakel wird in der größten Nische die Kreuzigung Christi dargestellt. Die Kreuzigungsszene wird rechts flankiert vom Relief der Einsetzung des Abendmahles und links von der Darstellung des Weinwunders bei der Hochzeit zu Kana. Im Gesprenge des Altars hat eine Figur Gottvaters Platz gefunden, darunter die der Maria als Königin des Himmels mit dem Christuskind. Anbetende bzw. tubablasende Engel im Gesprenge links und rechts begleiten die eucharistischen und mariologischen Geschehnisse. Beiderseits des Altars sind zwei große historistische siebenarmige Leuchter aus Messing aufgestellt.
Der linke Seitenaltar ist ein Muttergottesaltar, von der Jünglings-Sodalität für 3000 Mark gestiftet.
An der Stelle, wo ursprünglich der jetzt ausgelagerte Josefsaltar, ein Werk des Bildhauers Frerichmann aus Münster (30er Jahre) stand, ist jetzt die Taufkapelle eingerichtet. Dort hat der achteckige gotische Taufstein aus hellem Sandstein Platz gefunden, der aus der alten Dorfkirche St. Fabian und Sebastian stammt.
Die Verglasung der Selmer Ludgerikirche ist ohne Verlust seit der Entstehungszeit erhalten geblieben und bietet einen beeindruckenden Einblick in die Glasmalerei des Historismus. Abgesehen von der bereits besprochenen Chorverglasung sind auch die Außenwände des Querhauses durch große Fenster geschlossen. Das Nordfenster links stellt den hl. Ludgerus mit den Gänsen dar. Er trägt ein Modell der Ludgerikirche und seinen Bischofsstab in Händen. Ein Spruchband lautet: Ste. Ludgere, Patrone huius ecclesiae, ora pro nobis.“ Zu Häupten Ludgers ist eine Darstellung Kaiser Karls des Großen mit den Reichsinsignien Krone, Reichsapfel und Zepter. Im Südfenster rechts eine Darstellung des hl. Bonifatius mit Schwert, Buch und Bischofsstab. Das Spruchband lautet: „Germaniae Sanctus Bonifatius Apostolus“. Darunter die Wappenscheiben der Bistümer Mainz und Fulda. Die Seitenkapellen sind ebenfalls mit figürlichen Fenstern geschmückt: in der Marienkapelle mit zwei marianischen Themen: die Verkündigung an Maria und Mariä Tempelgang, in der Josefs- und jetzigen Taufkapelle nördlich Anna, die Maria lesen lehrt, und südlich die Anbetung der Könige. Dort heißt es auf dem Spruchband: „Drei Könige führt Gottes Hand durch einen Stern aus dem Morgenland.“
Eine Inventarisierung der Glasmalereien in der Ludgerikirche wurde u.a. von der Forschungsstelle Glasmalerei durchgeführt und kann über folgenden Link betrachtet werden: http://www.glasmalerei-ev.de/pages/b4322/b4322.shtml
Als Relikt aus der Friedenskirche befindet sich im nördlichen Querschiff ein vorzüglich gearbeitetes viersitziges Chorgestühl aus der Zeit um 1540. Ursprünglich fünfsitzig, sind jetzt noch vier Sitze übrig, deren Füllungen über den Kopfpartien wertvolle Schnitzarbeiten der Frührenaissance darstellen. Unter den Sitzbänken sind originelle Schnitzereien mit menschlichen und tierischen Fabelwesen, einige davon wurden erneuert.
Die Fenster des Mittelschiffs thematisieren durchgängig Symbole der Lauretanischen Litanei. Vorn rechts in der Kirche beginnend, sind in den Maßwerken dargestellt: Meerstern, Elfenbeinerner Turm, Goldenes Haus, Ehrwürdiges Gefäß, Geistliche Rose, Arche des Bundes, Spiegel der Gerechtigkeit, Morgenstern, Geistliches Gefäß, Sitz der Weisheit, Turm Davids, Pforte des Himmels. Die eigentlichen Fensterflächen nehmen Schmuckformen der bildlichen Darstellungen auf. Harmonisch und unauffällig fügen sich die Elefantenhäupter des zweiten Südfensters in die Fensterfläche ein: die Elefanten tragen im Bildfeld den elfenbeinernen Turm. In den Westnischen der heutigen Standorte der Beichtstühle (bzw. des Beichtzimmers) finden sich weitere Fenster mit den vier Kardinaltugenden. In der südwestlichen Nische die Mäßigung (Zucht und Maß) und die Gerechtigkeit, in der nordwestlichen Nische Starkmut (Tapferkeit) und Klugheit (im Beichtzimmer versteckt).
Die hölzerne Kanzel nimmt in reichem Schnitzwerk die architektonischen Schmuckformen der Kirche auf. Die vier Nischen zeigen die vier Evangelisten mit ihren Symboltieren: Matthäus mit dem Engel, Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier und Johannes mit dem Adler. An den Ecken sind Figuren von drei Kirchenlehrern angebracht: Ambrosius, Augustinus und Gregor der Große. Anstelle der Figur des Hieronymus sind zwei andere Heilige im Original schon erstellt und ersetzt worden, eine Besonderheit der Ludgerikirche, die sonst keine ikonographische Tradition hat: Auf der äußersten Westseite der Kanzelrundung befindet sich Benedikt von Nursia, der auf die Benediktiner von Essen-Werden und den Werdener Haupthof in SeIm verweist und bezüglich den bis 1803 in Seim tätigen benediktinischen Mönchen eine Erinnerung an diese Zeit dokumentiert. Auf der entgegengesetzten östlichen Seite der Kanzelrundung ist Thomas von Aquin dargestellt. Er wurde von Papst Leo XIII. 1880 zum „Patron aller katholischen Schulen“ erhoben. Der hölzerne Schalldeckel hängt an einem reichverzierten schmiedeeisernen Haken.
Im Hauptschiff hängt, zum Altarraum orientiert, eine annähernd lebensgroße Doppelmadonna aus dem Ende des 17. Jahrhunderts als sogenannte Strahlenmadonna. Unter der Orgeltribüne befindet sich ein farbig gefasstes Vesperbild (Pietà) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit dem zu Füßen seiner Mutter Maria auf den Boden gesunkenen toten Christus, weiter eine Holzplastik im Beichtzimmer, wo noch einmal Mutter Anna mit der jungen Maria zur Darstellung kommt.
Die Orgelbühne ist im Westjoch der Kirche eingefügt und ruht auf Pfeilern mit zwei Spitzbögen und einem mittleren Rundbogen. Eine Brüstung mit kunstvoll geformten Maßwerkornamenten grenzt die Tribüne ab. Die Orgel ist ein zweimanualiges Werk mit Pedal der Firma Fleiter, Münster-Nienberge, Baujahr 1989, mit 38 Registern und einem nach historischem Vorbild des Hunsrücker Orgelbauers Johann Michael Stumm (1683-1747) eingefügten Glockenspiel mit 39 Glocken. Die Disposition der Orgel kombiniert norddeutsche und französische Orgelbautradition; der Spieltisch verwendet Vorbilder des französischen Orgelbauers Aristide Cavaill-Coll (1811-1899). Das Gehäuse orientiert sich an der Gestaltung der ursprünglichen, ebenfalls von der Firma Fleiter gebauten Orgel (28 Register), die in eine rückwärtige Wandnische der Tribüne eingefügt war. – Links und rechts der Nische zwei Türen, deren linke Tür in den Treppenturm zu Uhrwerk und Glockenstube führt.
Der künstlerisch wertvolle Kreuzweg wurde in der Zeit von 1925-1928 von Maler Heinrich Repke, Wiedenbrück. im seinem Nazarenerstil auf Kupferplatten gemalt.
Das Geläute der Selmer Pfarrkirche besteht aus vier bronzenen Glocken und wurde nach dem Todestag von Pfarrer Bernhard Cremann am 23. Oktober 1948, spätestens 1949, unter Pfarrer Paul Senske eingesegnet.
Die Ludgerikirche weist noch eine Besonderheit aus: Vom ersten Advent bis Mitte Februar eines jeden Jahres ist das Weihnachtsgeschehen in acht wöchentlich wechselnden Bildern (Verkündigung, Begegnung von Maria und Elisabeth, Herbergssuche, Hirten auf den Feldern Betlehems, Geburt, Dreikönige, Flucht nach Ägypten und Darstellung im Tempel) mit Oberammergauer Krippenfiguren (Holzschnitzerei Hans Klucker, Inh. Fam. Pfaffenzeller) dargestellt.
Renovierung der Kirche zum 100-jährigen Bestehen
Rechtzeitig zum 100-jährigen Pfarrjubiläum wurde die Ludgerikirche umfangreich renoviert. Es wurden unter anderem vorhandene Setzrisse im Gewölbe verpresst, der Innenraum neu gestrichen und die gesamte Bleiverglasung der historischen Fenster erneuert. Außerdem wurden die künstlerisch wertvollen Fenster mit einer zusätzlichen Außenverglasung durch hartes Durchsichtglas versehen, was zum besseren Schutz vor Beschädigungen und zur besseren Isolierung dient.
Im Zuge der Renovierung wurden die Akustikanlage (Lautsprecher, Mikrophone, Hörerschleife etc.), Liedanzeige und Lichtanlage/ Beleuchtung ausgetauscht und verbessert.
An verschiedenen Stellen wurden Steinmetz- und Restaurationsarbeiten vorgenommen, unter anderem an den verschiedenen Skulpturen und Plastiken am Hochaltar, ebenso am Marienaltar (Stipes), am Zelebrationsaltar und am gotischen und historisch wertvollen Taufbrunnen, aber auch an der barocken Doppelmadonna in der Vierung und dem künstlerisch wertvollen Kreuzweg.
Zuletzt wurden 2012 eine neue Heizungsanlage installiert und in 2013 im Zusammenhang mit dem Neubau des Pfarrhauses die Außenanlagen neu gestaltet und ein behindertengerechter Seiteneingang geschaffen.