Carpe Diem – Nutze den Tag!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen genauso geht wie mir, oder ob es daran liegt, dass ich langsam alt werde: Ich habe das Gefühl, die Zeit rast immer schneller. Als Kind dauerte ein Jahr für mich ewig, es war angefüllt mit viel Zeit, zweckfreier schöner Zeit, an die ich mich gern zurückerinnere. Und heute? Heute frage ich mich: Wo ist das vergangene Jahr geblieben? Jede Menge Termine, Veranstaltungen, Ereignisse – und schon ist wieder ein Jahr um! Es ist, als ob die Zeit uns oft zwischen den Fingern zerrinnt.
Als ich vor nunmehr 31 Jahren Diakon in Warendorf war, fand ich dort an der Turmuhr der Kirche eine interessante Aufschrift vor, die lautete: „Carpe diem! Ultima forsa!“ Das heißt auf deutsch: „Nütze den Tag! Es könnte der letzte sein!” Diese Lebensweisheit könnte uns in Panik versetzen, denn wenn wir überlegen, wie viel Zeit wir oft sinnlos vertun und verstreichen lassen, dann ist das ein ganze Menge. Und immer mit dem möglichen Tod im Nacken zu leben, ist auch kein Vergnügen.
Doch genau darum geht es bei dieser Spruchweisheit nicht. Es geht nicht um Panikmache, es geht nicht darum, uns zu noch mehr Aktivitäten, zu Höchstleistungen anzuspornen. Es geht im Grunde nur darum, uns auf das Wesentliche zu beschränken, auf das, was wirklich wertvoll ist in unserem Leben – und dafür die Zeit zu nutzen.
Wenn wir in unserem Leben nachschauen, auch in den vergangenen 12 Monaten, dann werden wir – so glaube ich – schnell feststellen, was unsere wertvollsten Stunden waren. Mir ging es jedenfalls so: Jede Stunde, jede Minute, die ich einem anderen geschenkt habe, wurde mir selbst zu einem kostbaren Geschenk, weil sie auch mir geschenkt wurde in der Gemeinschaft mit dem anderen, in der Teilhabe an seinem Leben, sei es nun in frohen oder in dunklen Stunden voll Trauer und Schmerz. Ich durfte erfahren, was Zuneigung, Liebe, Treue und Gemeinschaft ist – und das nicht in theoretischen Abhandlungen, sondern im ganz einfachen schlichten Leben. All diese Erfahrungen, all diese Geschenke sind mehr wert als alles Gut dieser Welt, weil sie ewig sind und mir nicht genommen werden können. Uns mag im Leben vieles zwischen den Fingern zerrinnen, vieles misslingen, vieles ungenützt vorbeigehen, aber niemals werden uns diese Erfahrungen von Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe verloren gehen, denn sie sind Glanzpunkte, Vorausboten der Ewigkeit, in der alles einmal vollendet wird.
Liebe Schwestern und Brüder, für das kommende Jahr 2022 wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen ganz, ganz viele solcher Stunden und Erfahrungen als Vorausboten der Ewigkeit!
